Vanishing Twin – Der im Mutterleib gegangene Zwilling

Artikel von Alfred R. und Bettina Austermann.

Es gibt verzweifelte Menschen, die sich mit mäßigem Erfolg an vielen Therapiemethoden bei sehr guten Therapeuten versucht haben. Sie haben dennoch das Gefühl, dass irgendetwas ständig unerfüllt bleibt, irgendetwas noch fehlt und sie nicht wissen, was es ist.

Manchmal haben Gefühle, die einen lebenslänglich begleiten, andere Gründe als die, die immer vermutet wurden.

Sie haben schon alles versucht, was in ihren Möglichkeiten steht – Kinesiologie, Körpertherapie, Gestalttherapie, Familienaufstellung, Akupunktur, Yoga, Meditation, um sich Gutes zu tun und herausfinden, was fehlt.

Einsamkeit, Schuldgefühle, Eifersucht und Fehlschläge oft „unerklärlicher“ Art können eine ganz andere Ursache haben als die, die man gemeinhin vermutet:

Jemand war im Mutterleib nicht allein. Für eine Zeit.

Der verschwundene Zwilling – Die biologischen Fakten:

Mit hochmodernen Ultraschallgeräten kann man heute sehen, wie sich ein befruchtetes Ei in der Gebärmutter einnistet. Man kann 4 Wochen nach der Empfängnis (Nach gynäkologischer Rechnung 6. Schwangerschaftswoche) erkennen, ob eine Eihöhle (Chorion) gebildet wurde oder mehrere Eihöhlen gebildet wurden. Üblich ist bis heute, erst im dritten Schwangerschaftsmonat die gesehene Mehrlingsschwangerschaft Frauen mitzuteilen, da oft der zweite oder auch dritte Embryo wieder verschwindet.

Nach Einschätzung von darauf spezialisierten Gynäkologen ist jede zwanzigste bis jede achte Schwangerschaft zu Beginn eine Mehrlingsschwangerschaft. Manche vermuten sogar bis zu 80% Mehrlinge zu Beginn einer Schwangerschaft
Quelle: https://www.vanishingtwin.com/

Das aber Zwillinge geboren werden, ist weit weniger häufig, etwa eine Zwillingsgeburt auf 50 bis 500 je nach Lebensalter der Frau und Region.

Dass lebende Zwillinge lebenslänglich eine tiefe Seelenbindung miteinander haben, ist aus der Zwillingsforschung sehr bekannt geworden. Dass aber auch ein verlorener Zwilling weitreichende Konsequenzen für das Leben eines Betroffenen haben kann, ist psychologisches Neuland.

Wo bleibt der verschwundene Zwilling?

Es gibt Föten, die wie versteinert im Mutterkuchen eingewachsen sind. Sie sind in der späten Schwangerschaft gestorben, so dass dann ein Kind lebend zur Welt kommt und kurz danach noch ein verhärteter Klumpen, der an die Plazenta geschmiegt ist. Es gibt den sogenannten „Fetus papyracaeus“. Das ist der in der Schwangerschaft gestorbene Zwilling, dessen Körperwasser von der Mutter wieder aufgenommen wurde und der plattgedrückt und beinahe wie ein Blatt Papier in der Gebärmutter liegt und bei der Geburt mit herauskommt. Manchmal findet man in der Nachgeburt mehrere Plazenten. Das heißt, pro Mutterkuchen gab es mindestens ein Kind. Dieses wird heute noch oft den Müttern verschwiegen. Manche Embryonen verschwinden wieder, so dass später nicht mehr erkennbar ist, dass es einen zweiten Embryo gegeben hat. Sie werden von der Membran des Mutterkuchens absorbiert oder in einigen Fällen wachsen sie in den überlebenden Zwilling ein. In späteren Lebensjahren können diese Einlagerungen sich entzünden, Zysten, Geschwüre entstehen, die operiert werden. Haar-, Zahn- oder andere Gewebespuren eines „vanishing twin“ werden gefunden.

Wenn nach 5 Wochen nach der Einnistung der Embryo eine gewisse Größe erreicht hat, spürt er den anderen und die Gegenwart des anderen sehr genau. Als erstes hört er seinen eigenen Blutkreislauf und den des Zwillings, noch bevor das Herz anfängt zu schlagen. Das Ohr ist das erste, was ein werdender Mensch ausbildet. Erst dann beginnt das Herz zu schlagen und das Gehirn sich zu entwickeln. Näher als die Darmgeräusche und den Herzschlag der Mutter hört der eine Zwilling den anderen. Er beginnt mit dem anderen Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu spielen und zu fühlen. Der amerikanische Forscher David Chamberlain (1998) hat im Ultraschall gesehen, dass bereits zwei Monate alte Embryos bewusst wahrnehmen und reagieren können.

Falldarstellung

Im Nachfolgenden zeigen wir einen Fall. Jeder Fall ist anders, jede Lösung ist individuell verschieden. Um die Person zu schützen, ist der Name verändert worden.

Gewaltige Eifersucht – Doris

Doris ist 47 Jahre, hat keine Kinder und lebt in einer recht zufriedenen Beziehung mit Ecken und Kanten. Die Kanten beschreibt sie so, dass sie manchmal furchtbar eifersüchtig ist. Sobald ihr Partner sich mit jemand anderem trifft, kriegt sie wahnsinnige Wut und könnte alles kurz und klein schlagen. Und sie berichtet, sie habe ihren Partner deshalb auch schon einmal geschlagen.

Ich in der Funktion als Therapeut sage ihr, dass diese Art von Eifersucht oft die Art Eifersucht ist, bei der man fast provoziert, dass der andere geht, um einen Schmerz, ein altes Verlassensein wieder zu spüren, wenn der andere dann endlich gegangen ist. Daraufhin nickt sie. Ich frage sie, ob sie einen anderen Verlust erlitten hat oder in ihrer Familie auf der Seite der Mutter oder des Vaters jemand verlassen wurde oder ein Kind gestorben ist oder ein Elternteil früh gestorben. Sie verneint das alles.

Um sicherzugehen, befrage ich sie auch nach ihrer Geburt. Auch mit der Geburt und der frühen Kindheit ergeben sich keine Hinweise auf Störungen der Hinbewegung zur Mutter. Hier also ist der Verlust nicht zu finden.

Dennoch erscheint die Energie, mit der sie über den Verlust redete, so existentiell. Auch die Art wie sie von ihrer Wut spricht, ist existentiell bedrohlich für sie. So etwa wie „Wenn Du gehst, muss ich sterben, und ich tu alles, damit Du hier bleibst, damit ich nicht sterben muss“.

Ich mache mit ihr eine Symptomaufstellung. Sie wählt drei Stellvertreterinnen, eine für das Symptom, eine für sich selbst und eine für das, was hinter dem Symptom liegt. Die Stellvertreter stellten sich im Dreieck auf, mit etwa 2 Metern Abstand voneinander. Ihre Stellvertreterin schaut auf den Boden, ganz massiv. Das, worum es eigentlich geht, also das dahinter liegende Thema, schaut ebenfalls auf diese Stelle.

Nach einer Weile des Wartens legt sich das Thema auf die Stelle, wohin Doris‘ Stellvertreterin schaute. Doris selbst fühlt sich dorthin gezogen, aber hat gleichzeitig Angst. Auch ihre Stellvertreterin fühlt das genauso.

Doris‘ Stellvertreterin legt sich dann neben das Thema in etwa einem Meter Abstand auf den Boden, und sie schauen sich beide an. Darauf zieht sich das Symptom zurück und fühlt sich hier nicht mehr gebraucht.

Doris‘ Stellvertreterin will einerseits näher zum Thema und hat andererseits furchtbare Angst. Ich ermutigte sie, näher zu rutschen, und sie versucht dann, mit ihren Händen die Hände der Stellvertreterin für das Thema zu berühren. Dabei spürt sie eine panische Angst und zieht die Hände wieder zurück.

Die wirkliche Doris auf dem Stuhl fängt an, schwer zu atmen. Ich sage zu Doris‘ Stellvertreterin auf dem Boden: „Ja, du hast entsetzliche Angst sie zu berühren.“ Doris‘ Stellvertreterin bejaht das.

Und dann geschieht etwas sehr Deutliches, als ich noch einmal Doris‘ Stellvertreterin ermutige, das Thema, also die andere Person unten, an den Händen zu berühren.

Die wirkliche Doris auf dem Stuhl neben mir presst die Finger beider Hände aufeinander und zieht sie zu sich. Sie zuckt wie von etwas geschüttelt.

Ich sage zur echten Doris: „Ja, die hat Angst. Das fühlt sich so an wie ein kalter, harter Klumpen, der da im Wasser schwimmt, in der Fruchtblase. So wie es aussieht, warst Du nicht allein im Bauch Deiner Mutter.“ Doris auf dem Stuhl fällt zu Boden, durchzuckt wie vom Blitz getroffen.

Die tatsächliche Doris liegt dann ausgestreckt auf dem Boden. Ich bitte dann die Stellvertreterin für das Thema liegen zu bleiben und die echte Doris, den Platz von ihrer Stellvertreterin einzunehmen.

Doris legt sich so hin wie ihre Stellvertreterin vorher und schaut dem Thema in die Augen. Dies dauert zwei, drei Minuten, dann umschlingen sich beide ganz innig und Doris fängt an zu schluchzen und tief an zu weinen. Beide verharren minutenlang in innigster Umschlingung. Damit geht Doris‘ Aufstellung zu Ende. Tief verinnerlicht, ganz bei sich angekommen, sagt sie: „Endlich verstehe ich, wonach ich immer gesucht habe. Endlich verstehe ich, was ich mit anderen Therapien und Familienaufstellungen nicht gefunden habe. Jetzt spür ich Dich, meine liebe Schwester.“

Einige Wochen später – Brief von Doris an uns:

Eine sehr bewegende Rückmeldung haben wir von Doris nach der Aufstellung bekommen. Aus der Sicht einer Betroffenen wird deutlich, wie weit diese Dynamik reichen kann:

„Jetzt – einige Wochen nach meinem Aufstellungserlebnis – kann ich Euch Folgendes zurückmelden:
Ein großes Danke an meine innere Führung, dass sie mich zu Euch geschickt hat, die Ihr mein schlimmstes Problem zum Ende brachtet.
Mein frühestes Erleben der Eifersucht begann mit der Geburt meines kleinen Bruders, als ich 4 Jahre alt war. Ich fühlte mich von meinen Eltern verlassen und habe so stark reagiert, dass sie sich nicht anders zu helfen wussten, als mich zu bestrafen und abzuwerten.

Allein die Umdeutung des Symptoms in existenzielle Verlustangst und in die Frage, ob ich jemanden früh verloren hätte – hat mich halb geheilt. Durch die Erfahrung der Ursache – den Verlust meiner Zwillingsschwester noch im Mutterleib und der unmissverständlichen Bewusstwerdung dieser Tatsache – hat sich Folgendes verändert:

Ich fühle mich komplett. Der Platz ist ausgefüllt – ich bin wieder eins mit mir.

Mein Partner war nach meiner Aufstellung ebenfalls 2 Tage krank – und fühlt sich jetzt frei, an meiner Seite zu stehen, da er nicht mehr den Sog spürt, einen leeren Platz füllen zu müssen.
Als Du während der Aufstellung sagtest, dass manchmal der abgestorbene Fötus in den anderen einwächst, bin ich doch vom Stuhl geknallt – das genau ist passiert. Mir wurde später klar, dass dies der Grund war, weshalb ich keine Kinder bekommen konnte. Bei einer Eileiter-Schwangerschafts-OP wurden Verwachsungen im Unterleib festgestellt.

Auch meine Platzangst – z.B. konnte ich im Kino immer nur am Rand sitzen – ist verschwunden. Da dieses Thema nur mich selbst betrifft, kam es in früheren Aufstellungen nicht zutage. Kein fehlendes Geschwister war in vorherigen Aufstellungen aufgetaucht und auch jetzt, mit dem Wissen, fehlt es nicht im Familiensystem – ich habe es überprüft – es fehlte nur mir.

Die aktuelle Vorgeschichte hatte ich Euch ja schon am Telefon beschrieben, die mich überhaupt dazu brachte das Thema aufzustellen:
Ich bin vorher immer vor diesem Thema davon gelaufen und habe eher eine Beziehung beendet, als im entferntesten daran rühren zu lassen.

Mein langjähriger Partner hatte sich letzten Sommer verliebt und ich bin einer so überwältigenden Eifersucht begegnet, die mich teilweise zu Boden geworfen und in Krämpfe gebracht hat. Da ich 1. in seiner Schuld stand und aus Erfahrung weiß, dass man ca. 3 Monate durchhalten muss, um zu sehen, wie sich der Partner entscheidet und 2. einfach nicht weglaufen wollte – habe ich einige gute Lösungen gefunden und vielleicht durch das Durchgehen zum Schluss die Erlaubnis erhalten, es grundsätzlich aufzulösen – so fühlt es sich an.“

Herzliche Grüße
Doris

Der verloren gegangene Zwilling in Familienaufstellungen

Wenn in einer Familienaufstellung der Stellvertreter für die Person, der etwas fehlt, immerzu auf den Boden schaut, und es sind keine Daten aus der Familie bekannt, wo jemand umgekommen ist oder früh gestorben, könnte es sein, dass es sich um einen Zwilling handelt, der verloren gegangen ist. Das lässt sich sehr leicht überprüfen: man legt dorthin einen Stellvertreter für das, was da fehlt. Man bittet den Stellvertreter für den Aufstellenden, sich daneben zu legen.

Wie die beiden miteinander sind, daran kann man erkennen, ob es geschwisterlich ist, oder etwas anderes. Es gibt keine andere Beziehung, die so körperlich nah, so dicht, so gleich ist, wie die von einem Zwilling im Mutterleib. Sie ist so dicht und so innig, so süß, beinahe symbiotisch und verschmelzend, manchmal sogar leicht sexuell, dass jede andere Qualität von Beziehung dahinter zurücktritt. Wenn ein Aufstellungstherapeut nicht von der Möglichkeit des verlorenen Zwillings weiß und in der Familiengeschichte sucht, hilft das in einem solchen Fall nicht.

Wenn ein im Mutterleib verloren gegangener Zwilling wieder gefunden wurde, dann wollen sich die Stellvertreter oft gar lange nicht mehr loslassen. Später in der Aufstellung zieht sich aber oft der eine, der früh gestorbene, zurück. Für den anderen Überlebenden ist das oft sehr schmerzhaft, er fühlt sich so allein gelassen, so einsam.

Was Zwillingsaufstellungen von anderen unterscheidet

An dieser Stelle ein Hinweis für Aufstellungskollegen: Nicht alles was wie ein Zwilling aussieht ist auch ein Zwilling. Wir achten sehr, sehr genau auf die Reaktionen der Stellvertreter und überprüfen, wie sie sich anschauen. Nur wenn es von Gleich zu Gleich ist, nicht Eltern-Kind, Früherer-Späterer, großes Geschwister-kleines Geschwister, auch nicht Mann-Frau, könnte es ein verlorener Zwilling sein. Zwillinge schauen sich oft sehr verliebt an, innig-symbiotisch, manchmal auch kämpferisch mit einer typischen zueinandergehen-weggehen Pendelbewegung.

Manchmal hilft es, die Resonanz von Sätzen wie „Du hast mir sehr gefehlt und immerzu habe ich nach dir gesucht, lieber Bruder / liebe Schwester“ zu prüfen.

Wir sind in Aufstellungen sehr zurückhaltend mit der Deutung „Du hattest einen Zwilling“. Erst wenn das Feld bereit ist, bieten wir das an.

Besonders für Familienaufsteller ist das ganz wichtig zu wissen, dass es noch andere Themen gibt, als die einer familiären Verstrickung. Ich habe in Familienaufstellungen herausgefunden, dass ein im Mutterleib verloren gegangener Zwilling oft jede andere Familiendynamik bei weitem übertrifft. Das bedeutet also, auch wenn die Mutter ihre Mutter ganz früh verloren hat oder der Vater seine beiden Eltern und das entsetzlich schlimm ist, ist das dennoch nicht so tragisch, wie im Mutterleib einen Zwilling in einem späteren Stadium der Schwangerschaft verloren zu haben. Und wenn man das weiß, kann man den fehlenden Zwilling anschauen und ihm einen Platz im Herzen geben und mit dieser, seiner Kraft weitergehen ins Leben. Und wenn man weiß, dass man den Zwilling vermisst, muss man nicht mehr krampfhaft versuchen, dieses beim Beziehungspartner zu bekommen. Das kann der beste Partner nicht geben.

Alfred R. und Bettina Austermann


Literaturhinweise und wichtige Links

  • Austermann, Alfred R. und Bettina: „Das Drama im Mutterleib – der verlorene Zwilling“,
    Königsweg-Verlag Berlin, www.koenigsweg-verlag.de
  • Hellinger, Bert: „Die Quelle braucht nicht nach dem Weg zu fragen“ Zum Thema Zwilling besonders S. 58, 116; Carl-Auer-Verlag, 2001
  • Chamberlain, David: „The mind of the New Born Baby“, North Atlantic Books, 1998
  • Degen, Rolf: „Viele verlorene Zwillinge“ in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.03.02;
  • Grof, Stanislav: Geburt, Tod und Transzendenz – Wie die Geburt erlebt wird: Geburtsmatrizen S. 110, Rowohlt, 1992
  • Levi, Salvator: Belgischer Ultraschall-Untersuchungs-Pionier, hat zahlreiche Zwillingsuntersuchungen durchgeführt und Fachartikel geschrieben. Mehr über die Entwicklung von Ultraschalluntersuchungen unter www.ob-ultrasound.net/levi.html
  • Mayer, Norbert: „Der Kain-Komplex“, Integral, 1998
  • Nedden-Boeger, Claudio/ Boeger, Sabine: Zwillinge – ein Leitfaden für Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit danach; 2003;
  • Chucholowski, Annegret: Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten; Vortagsskript, September 2004
  • https://www.vanishingtwin.com/